Gudden hatte an der Ministerratssitzung vom 7. Juni, seinem 62. Geburtstag persönlich nicht nur teilgenommen, sondern auch aktiv beraten und er nahm noch am gleichen Abend das vorliegende "Aktenmaterial" in Angriff.
Wie Schwiegersohn Hubert Grashey, zum Geburtstag aus Würzburg angereist, später bekräftigte, habe Gudden den ganzen Montag und die darauffolgende Nacht über dem 24seitigen Entwurf gesessen und ihn am Dienstagmorgen, 8. Juni, um 9 Uhr den Kollegen zur Begutachtung vorgelegt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Grashey ausgerechnet zum Geburtstag seines Schwiegervaters nach München kam; man kann durchaus davon ausgehen, dass eine angemessene Geburtstagsfeier statt. Danach verschwand der Psychiater in sein Büro, um die Nacht durchzuarbeiten.
Lutz hatte in seinem eiskalten Kalkül Gudden genügend Material überstellt: Zeugenaussagen von unbedarften Zeitgenossen, welche Merkwürdigkeiten festgestellt haben wollten, ein Erbgutachten aus der Verwandtschaft, in denen Geistesschwäche attestiert wurde, sowie ein angeblicher Lebenslauf, der sich eher wie eine Krankengeschichte las.
Am Vormittag des 8. Juni legte Gudden den von ihm verfassten Text des in Auftrag gegebenen "Kollegial-Gutachten", sowie schriftliches Beweismaterial vor, das noch am selben tag in Reinschrift gefertigt wurde und von allen vier Sachverständigen, Gudden, Grashey, Hagen und Hubrich unterschrieben wurde.
Ob die von Gudden zur Mitunterschrift ausgesuchten Ärzte sich in dieser knappen Zeitspanne mit den "Materialien" und den von Gudden daraus gezogenen Folgerungen wissenschaftlich angemessen befassen konnten, bleibt fraglich.
Inhaltlich habe sich die drei "Gutachter" an der Ausarbeitung des Gutachtens nicht beteiligt. Grashey räumte dies unmissverständlich später in einem bekannt gewordenen Nekrolog auf Gudden ein.
Dr. Hagen gestand nach dem Tod des Königs, dass er dem Gutachten nur zugestimmt habe, weil er "nicht den Schein eines Mangels an Übereinstimmung aufkommen lassen wollte".
Für die Bewertung der Handlungsweise Guddens bei der Erstellung des Gutachtens ist auch ein Blick auf die Forensik um die Zeit zwischen 1870 bis 1895 aufschlußreich. Sie gibt Aufschlüsse über die damaligen Grundsätze hinsichtlich Verfahrenspflichten eines Gutachters gibt, die einem Psychiater von der Qualität Guddens bekannt gewesen sein mussten.
Der mit seinen Lehrbüchern im deutschen Sprachraum bekannteste und am weitesten verbreitete psychologisch-psychiatrisch-forensische Gutachter der Zeit zwischen 1875 und 1895 war Professor Richard von Krafft-Ebing.
In seinem Buch "Das Entmündigungsverfahren" von 1881, führt er zur Methodik der Begutachtung folgendes aus:
" Wichtig ist die vorgängige Information über den Zustand des Kranken. So wenig als im Criminalforum ist eine Berufung Sachverständiger erst zum Termin geeignet, Klarheit über einen fraglichen Geisteszustand zu verbreiten. Es bedarf hierzu genügender Zeit der Beobachtung und des genauen Studiums des Vorlebens. Die eigentliche exploratorische Aufgabe des Sachverständigen fällt in die Zeit vor dem Termin, der für den Arzt nur noch Formalität und wesentlich für den Richter da ist, damit dieser eine persönliche Anschauung von dem Geisteszustand des Provocaten gewinne. Das Material für die Informationen bilden die Vorakten und die Informationsbesuche beim Exploranten. Für die nöthige Ergänzung jener durch Zeugenaussagen ist der Richter anzugehen. Die Angaben der Umgebung und Verwandtschaft sind oft partheiisch und nicht bona fide hinzunehmen. Daß negative Zeugenaussagen nichts für Geistesintegrität beweisen, ist selbstverständlich. Von besonderem Wert ist das Zeugnis des Hausarztes, ferner die sorgfältige Aufnahme der Anamnese, die Aufschluß über die Gesundheitsverhältnisse, frühere Krankheiten, Lebensumstände, Charakter und frühere Lebensführung gibt."
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