Keine dieser Vorgaben- genügende Beobachtungszeit, Informationsbesuche, richterliche Zeugenvernehmungen, Warnung vor Angaben aus der Umgebung- wurden von Gudden bei der Erstellung seines Gutachtens zur Entmündigung König Ludwigs berücksichtigt.
Krafft-Ebings Darstellungen der Aufgaben des Gutachters im Entmündigungsverfahren verdeutlichen, dass Gudden und die drei weiteren Psychiater unter Berücksichtigung der damaligen wissenschaftlichen Standarts auf einer persönlichen Untersuchung Ludwigs hätten bestehen oder den Gutachtensauftrag ablehnen müssen:
„Von größter Bedeutung ist die persönliche Exploration des Beschuldigten. Wie sie fehlt, ist kein sicheres Gutachten möglich". (Krafft-Ebing 1881)
Krafft-Ebing führt noch weiter aus:
„Das Krankenexamen, namentlich beim Geisteskranken erfordert Übung und Sachkenntnis. Deshalb fällt auch in der Reel dem Sachverständigen im Termin die Führung des Kolloquium mit dem Exploranden zu. Wichtig ist die vorgängige Information über den Zustand des Kranken."
Es erscheint höchst unglaubwürdig, dass Gudden über die Verfahrenspflichten eines Gutachters nicht informiert gewesen sein soll, denn schließlich hatte er in der Vergangenheit schon einige Gutachten, die für die richterliche Entmündigung nötig waren, erstellt.
Demnach waren Gudden auch die in der Verfassung von 1818 garantierten Rechte einer Person geläufig, sowie die Paragraphen, die bei einer Entmündigung anzuwenden waren.
Die Entmündigung und das zu führende Verfahren war nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geregelt, die in der „Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich" (CPO) aus dem Jahr 1879 festgeschrieben waren.
§ 593 Satz 1 CPO regelte, dass eine Person nur durch den Beschluss des Amtsgerichts für „geisteskrank (wahnsinnig, blödsinnig, usw.) erklärt werden kann".
§ 597 CPO sah vor, dass das zuständige Amtsgericht unter Benutzung der in dem Antrag angegebenen Tatsachen und Beweismittel von Amts wegen die zur Feststellung des Geisteszustandes erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und die geeignet erscheinenden Beweismittel aufzunehmen.
§ 598 COP schrieb des weiteren zwingend vor, dass im Regelfall der zu Entmündigende persönlich unter Zuziehung eines oder mehrer Sachverständiger zu vernehmen sei.
§ 605 Satz 1 COP sah weiterhin vor, dass ein Bürger, der vom Amtsgericht nach Anhörung und Verhandlung entmündigt war, diesen Beschluss innerhalb eines Monats anfechte konnte.
§ 609 COP sah vor, dass ihm von Amts wegen ein Anwalt als Beistand zur Verfügung gestellt werden musste.
Für den König sah die damalige Verfassung des Königreichs Bayern nach Titel II § 11 folgende Regelung vor:
„Sollte ein Monarch durch irgendeine Ursache, die in ihrer Wirkung länger als ein Jahr andauert, an der Regierung gehindert werden, und für diesen Fall nicht selbst Vorkehrungen getroffen haben, oder treffen können, so findet mit Zustimmung der Stände, welchen die Verhinderungs-Ursachen anzuzeigen sind, gleichfalls die für den Fall der Minderjährigkeit bestimmte gesetzliche Regentschaft statt."
Demnach wäre der Landtag bei der Wahrnehmung dieser „richterlichen" Funktion nicht umhin gekommen, König Ludwig vor der Zustimmung des Parlaments zur Einsetzung der Regentschaft persönlich anzuhören.
Die vom Ministerrat am 7. Juni, bei er Gudden nachweislich anwesend war, beschlossene Internierung und weitere Zwangsmaßnahmen gegen Ludwig hätten darüber hinaus der Rechtsgarantie des Titel IV § 8 der Verfassung entsprechen müssen:
„Niemand darf verfolgt oder verhaftet werden, als in den durch Gesetze bestimmten Fällen, und in der gesetzlichen Form."
Schließlich war die Einsperrung von „Blödsinnigen oder Geisteskranken" im Jahr 1886 gesetzlich geregelt und damit justiziabel. Danach kam die Unterbringung in einer „Irranstalt oder deren sonstige genügende Verwahrung“ gegen den Willen der Kranken nur dann in Betracht, sofern „eine solche Person einen Angriff gegen Personen oder fremdes Eigentum verübt oder die öffentliche Sittlichkeit verletzt hat." Darüber hinaus benötigte die Polizei für eine solche Verfügung ein „ bezirksärztliches Gutachten", also die Stellungnahme eines Amtsarztes.
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