Jetzt gehe ich genauer auf den Spaziergang ein, den der König mit Dr. Gudden am späten Vormittag unternehmen durfte.
Der Spaziergang beginnt etwa um 11.15 Uhr und endet gegen 12.15 Uhr mit der Rückkehr ins Schloß.
Dr. Grashey beobachtet vom Vorzimmer des Königs aus den Beginn des Spaziergangs und schildert seine Eindrücke:
" Auf dem längst des Sees hinführenden Fußpfad, welcher anfangs etwa 50 Meter vom Ufer entfernt ist, sich gegen das Parkende zu mehr dem Seeufer nähert, nur selten freien Ausblick auf den See gestattet, und durch Wiesenflächen und Gebüsch vom Ufer geschieden ist, gewahrte ich einen langsam dahinschreitenden Gendarmen, bald darauf erschienen auf demselben Wege der König und Gudden sehr langsamen Schrittes, ruhig miteinander sprechend, etwa 30 Schritte hinter ihnen (umgerechnet ca. 200 m) folgten zwei Pfleger. Es dauerte nicht lange, so wandte sich Gudden mit einer Handbewegung gegen die Pfleger, welche offenbar sagen sollte, dieselben möchten einen größeren Abstand einhalten."
Was Grashey nicht sah, oder einfach nicht beachtete, war die Tatsache, dass auf dem See mehrere Kähne waren, die nahe am Ufer hin und her ruderten. In einem der Kähne saßen Graf Karl v. Rimbaldi, sein Schwager Major Edward Hornig und sein zwei Jahre älterer Bruder Richard Hornig, der ehemalige Stallmeister und Privatsekretär des Königs. Sie kreuzten den ganzen Vormittag zwischen Leoni und Berg hin und her, ungeachtet der heftigen Regengüsse.
Dann rasten der König und Gudden für kurze Zeit auf einer Parkbank, die seinerzeit nicht weit von der Unglücksstelle stand. Dann begeben sie sich zurück ins Schloß. Der König zieht seinen durchnäßten Mantel und die ebenso durchnäßten, verschmutzen Schuhe selbst aus. Dann wäscht er sich die Hände und läßt sich von Mauder die Haare kämmen.
Dann setzt er sich zu Tisch und läßt sich, wieder von Mauder, sein zweites Frühstück servieren: zwei Teller Suppe, ein Fleischgericht und geröstete Kartoffeln, sowie als Nachtisch gezuckerte Erdbeeren. Als Getränk wird auf den Tisch eine Karaffe Wein gestellt.
Anmerkung: eine Karaffe verfügt über ein Füllvermögen von einem Liter Wein, bzw. Wasser. Sie hat in der Regel einen Henkel und einen Verschluß. Weinkaraffen werden dazu verwendet, den Satz des Weines auf dem Boden zu halten. Eine Karaffe wird nicht zwangsläufig zum Essen völlig geleert, daher der Deckel/Verschluß, um immer wieder Wein entnehmen zu können.
Dann bittet der König um ein Fernglas, um den See betrachten zu können. Es wird ihm gebracht, was spricht schon gegen dies harmlose Vergnügen, und nach den Aussagen seiner Beobachter, betrachtet er immer wieder lange den See.
Was freilich niemand weiß: der Kahn mit den schon genannten Herren kreuzt nach dem Mittagessen weiter auf dem See, die schon am Vormittag gewählte Route. Der König kann zwar nicht die gesamte Route einsehen, aber er weiß, sie sind da.
* Zunächst werden der König und Gudden von zwei Pflegern in einem größeren Abstand begleitet. Die Begleitung von Geisteskranken auf Spaziergängen ist nicht nur Pflicht, sondern gesetzlich vorgeschrieben.
Plötzlich gibt Gudden den Pflegern offensichtlich Anweisung, sich in einem noch größeren Abstand hinter ihm und dem König zu bewegen. Nach Aussage des Pflegers Hack waren es zuletzt mehr als 400 Meter, mitunter verlor sich sogar die Spur der Spaziergänger!
Was sollte das? Gudden hatte nur wenige Tage zuvor dem König Verrücktheit attestiert, bei dem Gutachten wurde ausdrücklich auf die Gefährlichkeit des Königs hingewiesen, seine Unbeherrschtheit, seine Wutausbrüche, seine Handgreiflichkeiten gegenüber dem Dienstpersonal. Bei einem so großen Abstand, 400 m, hätte der König Gudden leicht eine dementsprechende Ohrfeige oder Faustschlag verpassen können, dass der Arzt zumindest verletzt oder bewußtlos gewesen wäre. Die Hilfe durch die Pfleger, die zwar dementsprechende Griffe kannten, um einen gewalttätigen Menschen quasi schachmatt setzen zu können, wäre mit Verspätung oder sogar zu spät gekommen.
* War das Ganze eine Art Generalprobe auf das, was am Abend folgen sollte? Gudden hatte zumindest von etwas Kenntnis, was die anderen Ärzte und schon gar nicht die Pfleger wußten. Gudden hatte nämlich Angst, als nach Neuschwanstein reiste, um dem König seine Entmachtung und anschließende Internierung zu verkünden. Seiner Frau, die seine Angst bemerkte und ihn darauf ansprach, erklärte er dies mit einem Albtraum, den er gehabt hätte. Er käme wieder, entweder lebendig oder tot, seine Tochter bat er, für ihn zu beten.
Warum solche Sterbe- und Todesangst, wenn man nur seine ärztliche Pflicht erfüllt oder das, was man dafür hält? In Neuschwanstein waren bezahlte Ärzte und Pfleger anwesend, in Berg ebenso, es wurde sogar darüber gesprochen, noch einen Arzt, sowie zwei weitere Pfleger zu bestellen. Bei vorschriftsmäßigem Verhalten war die Angst völlig fehl am Platz!
Im nächsten Beitrag erläutere ich, wie erstaunt Guddens Kollegen waren, als er ihnen ankündigte, am Abend mit dem König allein einen Spaziergang machen zu wollen, wie resistent Gudden gegen sämtliche Kritik reagierte.
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