Ich habe mich lange gefragt, wie Dr. Gudden auf die fatale Idee kam, den Abendspaziergang mit dem König alleine zu unternehmen.
Eines ist klar: wenn ein Mensch laut Gutachten, das ich selbst verfertigt habe, verrückt ist, zu Gewalttätigkeiten neigt und eine fehlende Impulskontrolle hat, dann gehe ich ganz gewiß nicht alleine mit ihm spazieren.
Naja, das Aktenmaterial wurde von Gudden innerhalb von 24 Stunden ausgewertet....Schmierzettel, Aussagen der männlichen Dienerschaft, Bauwut, Verschwendungssucht, körperliche und seelische Anlagen. Weibliche Dienerschaft gab es übrigens auch. Doch von den Frauen wurde keine Einzige befragt. Es sind auch keinerlei Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen bekannt. Das Gutachten wurde damals schon angezweifelt und ist heute Makulatur.
Aber Dr. Gudden war damals die führende Kapazität und er wurde als Gutachter in vielen Prozessen angefordert. Er machte sich um die Fortschritte in der Psychiatrie verdient und zwar dermaßen, dass er ordentlicher Professor an der Münchner Universität und Direktor der oberbayerischen Kreisirrenanstalt München wurde. Er wurde 1875 mit dem Verdienstorden der Bayerischen Krone ausgezeichnet und aufgrund der Ordensstatuten in den persönlichen Adelsstand erhoben. Gudden war außerdem Königlicher Obermedizinalrat. Die Auszeichnungen hatte er Ludwig II. zu verdanken, dessen Bruder Otto in der Obhut Guddens war.
Warum begibt sich ein erfahrener Mediziner also derartig in Gefahr?
Verfolgen wir den Gesprächsverlauf zwischen den Ärzten, geführt am 13.Juni 1886, um 14:00 Uhr.
Gudden berichtet während des vorzüglichen Essens, was ihn der König auf dem ersten Spaziergang am Vormittag alles gefragt hat.
Gudden: "Er wollte alles bis ins kleinste Detail wissen. die Unterhaltung mit ihm bot wenig Abwechslung, denn sie drehte sich immer um dieselbe Frage, ob man ihm nicht nach dem Leben trachte. aber sonst hat sich der König wunderbar in die neue Lage gefügt. Ich werde am Abend wieder mit ihm spazieren gehen, und zwar allein, denn es sit gar keine Gefahr vorhanden. Der König ist wie ein Kind".
Dr. Müller und Baron Washington äußern ihre Bedenken.
Dr. Müller: " Dr. Gudden, aber sie sagen doch selbst, bei Irren müsse man größte Vorsicht walten lassen, da sie sich leicht verstellen können, um dann bei gegebener Gelegenheit die Flucht ergreifen zu können. Ich würde niemals die Verantwortung auf mich nehmen, mit dem König allein spazieren zu gehen. Sie erschweren mir dadurch meinen Dienst. Sie, Dr. Gudden, können sich das erlauben mit ihrer faszinierenden Gewalt über die Kranken. Ich selbst würde es niemals wagen".
Dr.Gudden (lachend): Sie Schwarzseher! - Baron Washington, ich möchte den Umgang Seiner Majestät mit dem Dienstpersonal möglichst verringern und den König allmählich wieder dazu bringen, dass er in gehobeneren Kreisen verkehrt und sich an deren Unterhaltung gewöhnt. Was halten Sie davon, Baron, selbst einmal allein mit Seiner Majestät eine Ausfahrt zu machen?"
Washington: " Dagegen möchte ich mich verwahren. Ich werde dies nur unter Zuziehung eines Wärters tun. Denken Sie an den Lieblingsspruch seiner Majestät: "Den müssen wir einseifen!"
Dr. Gudden (scherzend): "Aber, aber Baron, übertrieben Sie da nicht? Der König ist liebenswürdig und harmlos. Einseifen lasse ich mich von ihm ja auch, aber nicht rasieren."
Um 17:50 Uhr gibt Gudden ein Telegramm an Ministerpräsident Lutz auf:
"Hagen und Hubrich (Arztkollegen Guddens) auf Dienstagvormittag 9:00 Uhr bestellt. Das Gutachten über Prinz Otto wird voraussichtlich Dienstagabend übergeben werden können. Hier geht es bis jetzt wunderbar gut! Persönliche Untersuchung hat übrigens das schriftliche Gutachten nur bestätigt."
Ja, was denn nun?
Gudden war in der Unterhaltung der Überzeugung, der König sei liebenswürdig und harmlos, von ihm gehe keine Gefahr aus. Er habe sich wunderbar in die neue Lage gefügt. Um diese Analyse zu festigen und zu beweisen, will er mit dem König alleine einen Spaziergang machen. Argumenten ist er nicht zugänglich. Selbstüberschätzung?
Der Gedanke liegt nahe, denn im Telegramm an Lutz wird die Diagnose, der König sei verrückt, nochmals unterstrichen.
Ich gebe zu, dass ich mir lange den Kopf darüber zerbrochen habe, wie Gudden so handeln konnte, bis ich kürzlich auf eine interessante Tatsache stieß. Das kam so: ich hatte mir von Wilhelm Wöbking "Der Tod König Ludwigs II. von Bayern - Eine Dokumentation" ausgeliehen. Dr. Franz Carl Müller wird zum Gutachten über den König befragt und gebeten, die Verrücktheit des Königs genauer zu erklären. Müller wird ungeduldig, er weist darauf hin, dass die mühsam aus den Ecken gezerrten Halluzinationen nicht das Wesentliche seien, vielmehr nehme er an, der König leide untermoralischen Irrsinn. Das ist dem Frager zu diffus und Müller betont nun: Der König leidet an moralischem Irrsinn!
Ha, da war die Katze nun endlich aus dem Sack, endlich!! "Moral insanity" war ein Begriff aus der Frühzeit der Psychiatrie und bestens dazu geeignet, Menschen in die Irrenanstalt zu bringen und dort zu disziplinieren. Mit "moral insanity" war in erster Linie Homosexualtät gemeint (...wenn der Mann zum Manne geht...) oder wenn Frauen Ehebruch begingen.
Im 19. Jahrhundert galt die Homosexualität weiten Kreisen der Öffentlichkeit und vor allem der Kirchen als Ausdruck einer unmoralischen Geisteshaltung und Lebensweise, als Folge von Verführung, sexueller Übersättigung oder degenerierter Erbanlagen (Dekadenztheorie). Sie wurde in einigen Ländern, vor allem in England und in Preußen, als Verbrechen gegen die Sittlichkeit mit harten Gefängnisstrafen geahndet.
Und der König war homosexuell oder hatte zumindest homosexuelle Neigungen. Damit gehörte er in die Hände von Ärzten und ihre Zwangsbehandlungen, wie kalte Waschungen, Moralpredigten oder dergleichen.
Homosexualität und Selbstbefriedigung waren die Lieblingsbetätigungsfelder der Ärzte des 19. Jahrhunderts. Wer sich einmal mit dieser Materie beschäftigt hat, kann nur noch erschauern! Eventuell werde ich noch gesondert darüber schreiben.
Das Gutachten, das zur Entmündigung des Königs erstellt wurde, wird nämlich immer nur unvollständig abgedruckt. Es fehlen 21 (!!) Bögen, die sich mit der geschlechtlichen Neigung des Königs befassen. Es ist, gerüchtweise, die Rede davon, dass der König Männer küßte, umarmte, Fotos von ihnen machen ließ, manche mußten dem Bildhauer Modell stehen. Die Statuen soll der König dann umarmt haben. Es gibt aber ein Buch, in dem diese 21 Bögen veröffentlicht sind. Ich werde es über die Fernleihe ordern.
Das war der Grund für die Entmündigung: ein sittlich und moralisch verkommener Mensch, dessen Geisteszustand daher verrückt war, konnte nicht König, nicht Regent, nicht Vorbild sein.
Und Dr. Gudden, der in den Gesprächen mit dem König offensichtlich einen normalen Menschen antraf, nahm wohl an, dieser gefügige, infantile Mensch würde ihm nichts tun. Dass dieser Mensch fliehen wollte, zunächst einmal, nahm er nicht an!
Übrigens: als der König und Gudden zunächst nicht auffindbar waren, hatten die Ärzte Angst, der König könne längst in München sein und es gäbe eine blutige Revolte...
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