Sie fühlte sich schlecht, irgendetwas war nicht in Ordnung mit ihr. Ob sie schon wieder eine Bronchitis hatte? Die letzte schwere Erkältung lag doch erst sechs Wochen zurück, aber trotzdem ging es ihr genauso mies wie damals. Sie band sich einen dicken Schal um, kochte sich einen Erkältungstee und maß sich zur Sicherheit Fieber: 37,2°, eigentlich keine Grund zur Besorgnis. Vielleicht doch nur eine Erkältung oder gar der Beginn einer Grippe?!
Nein, das konnte nicht sein, sie hatte sich im Frühherbst impfen lassen, aber in Asien gab es diese Vogelgrippe, wer wußte schon genau, ob die Viren nicht schon in Europa, in Deutschland eingeschleppt waren?
Geistig sah sie sich bereits als Opfer einer Epedemie, so wie sie große Teile der Bevölkerung am Beginn der Zwanziger Jahre des 20.Jahrhunderts einer schwer grassierenden Grippe erleiden mußten; die Toten wurden zu dieser Zeit nach Tausenden gezählt. ...
Zum Glück gab es heutzutage ganz andere medizinische Möglichkeiten, tröstete sie sich. Gleich morgen würde sie den Arzt aufsuchen und in der Zwischenzeit das Bett hüten.
Als am Abend ihr Freund von der Arbeit nach Hause kam, meinte er nur, daß von einer Erkältung keiner sterben würde und daß sie, nachdem sie in Pension sei, doch ziemlich hypochondrische Züge annehmen würde.
Da war sie beleidigt und warf ihm zuerst in zorniger, dann in weinerlicher Art vor, ein wenig feinfühliger, nein, um ehrlich zu sein, daß er ein grober Kerl sei. Doch er lachte nur.
Am anderen Morgen, sie hatte nur wenig und unruhig geschlafen, begegnete sie ihrer Nachbarin. Diese äußerte sich besorgt über ihr Ausehen und empfahl ihr ein Naturheilmittel gegen Erkältungen. Doch das wollte sie nicht hören und empfahl sich schleunigst.
Auf dem Weg zum Arzt überlegte sie, daß ihre Nachbarin eine merkwürdig distanzierte Frau war. Gewiß, man konnte sich gut mit ihr über Katzen und billige Preise unterhalten, aber im Ganzen war sie eher vorsichtig und Mitgefühl schien sie nicht im mindesten zu besitzen.
Dagegen ihr Freund! Er hatte zwar einige seltsame Ansichten über Ernährung und auch das Rauchen störte ihn, aber ein einziger Blick seiner stahlblauen Augen genügte, daß ihr Herz schneller schlug und ihr ganz warm wurde. Ach, und charmant konnte er sein, die Liebenswürdigkeit in Person. Dagegen verblasste ihr jüngerer Freund mehr und mehr, nein, er verwandelte sich in ihren Augen allmählich in eine Haßfigur.
Als sie am späten Vormittag die Arztpraxis verließ, war sie auf ihren Arzt beinahe genauso schlecht zu sprechen wie auf ihren Freund und ihre Nachbarin obendrein. Alle Drei schienen sich auf unerklärliche Weise gegen sie verschworen zu haben. Ihr Hausarzt diagnostizierte nämlich, es sei nur eine leichte Erkältung; empfahl ihr frische Luft, Inhalationen, ein Naturheilmittel und verbot ihr die geliebte Zigarette; sie hätte heulen können vor lauter Zorn.
Kaum war sie zu Hause angekommen und hatte die Wohnungstür hinter sich geschlossen, kochte sie sich einen starken Kaffee. Sie süßte das dampfende Getränk mit reichlich Zucker und goß fast ein ein ganzes Kännchen Sahne dazu, dann verzog sie sich grollend in ihre gemütliche Couchecke. Langsam schlürfte sie das Gebräu in sich hinein, da fiel ihr Blick auf die Zigaretten.
Der Kampf mit ihrem inneren Schweinehund dauerte nur kurz, dann nahm sie ihre Zigarettenschachtel und ging auf den Balkon. Sie zündete ihre Zigarette an und nahm gierig einen tiefen Zug. Augenblicklich folgte ein krampfartiger Hustenanfall, doch die Zigarette hielt sie auch weiterhin zwischen ihren Fingern.
Der alte Herr Müller, er war mit ihr im Sommer zum Baden an den Nacktbadestrand gefahren, bog soeben mit seinem Hund um die Ecke. Er kam vom täglichen Spaziergang zurück, davon hielt ihn nicht einmal die Kälte ab, und schüttelte nur unmerklich den Kopf. Aber es genügte, um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu ziehen.
Ah, noch so einer, der ihr nicht unbedingt wohl wollte; geizig war er obendrein. Nur ein mageres Entgelt hatte er ihr für die wenigen Badefahrten, den Nacktbadestrand hatte er nach kurzer Zeit langweilig gefunden, Fleischbeschau an der Theke nannte er es, gegeben; aber daß sie ihn dazu eingeladen hatte, unterschlug sie in ihren Gedankengängen wohlweislich.....
Da radelte ihr Nachbar vorbei und als er sie sah, hielt er an. Freundlich erkundigte er sich nach ihrem Befinden und hob den Zeigefinger, um sie auf spielerische Art wegen ihrer Zigarette zu ermahnen. Nein, diesem Mann konnte sie wirklich nicht böse sein und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.
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