Die Geschichte der kleinen Leute, wann lesen wir wirklich über sie? Geschichte ist an und für sich ein großartiges Thema, kein Zweifel und auch ich fröne seit Jahren leidenschaftlich dieser Thematik, aber wer schreibt über die kleinen Leute oder läßt sie zu Wort kommen? Gewiß, auch ich habe schon in persönlichen Lebenserinnerungen geschmökert, wie etwa "Herbstmilch" von Anna Wimschneider oder auch "Die Schwabengängerin" von Regina Lampert. Aber das sind Ausnahmen, denn die Regale der Buchhandlungen oder Bibliotheken sind von Biographien vieler, vieler berühmter und bekannter Persönlichkeiten bestückt.
Aber das ist ein anderes Leben, als es die kleinen Leute führten. Ein Leben das oft privilegiert war. Ich persönlich fand, und finde immer noch, die Erlebnisse der kleinen Leute spannender und farbiger. Und solche Leute waren meine Großelternpaare. Deswegen möchte ich ihre Geschichte vorstellen.
Ich beginne mit meiner Großmutter väterlicherseits, die ich immer als eine lebendige, interessierte und couragierte Frau sehe.
Meine Großmutter, Franziska, kurz Fanny genannt, wurde am 6. Februar 1896 in Freising geboren. Damals gab es noch das Deutsche Kaiserreich und das Königreich Bayern, eine Zeit, an die sich meine Großmutter gerne erinnerte. Wer noch die Serie "Königlich Bayrisches Amtsgericht" kennt, weiß, was ich meine.
Wie bereits gesagt: meine Oma wurde in der "guten, alten Zeit" geboren und war ein unerwünschtes Kind. Nicht, dass ihre Eltern arm oder meine Oma illegitim gewesen wäre, nein, meine Oma war ein Nachzügler. Ihre Eltern waren bereits über 40 Jahre alt, Jahrgang 1860 und 1864, und da der einzige Sohn, meine Oma hatte noch eine ältere Schwester, im Kindesalter verstorben war, hoffte man erneut auf einen Stammhalter. Doch die Hoffnungen erfüllten sich nicht und so war meine Großmutter für ihre Eltern immer ein Mensch zweiter Klasse.
Dann kam es noch schlimmer: ihr Vater, Georg B., Gendarm beim Königlich Bayerischen Gendameriekorps, wurde bei der Kontrolle von Landfahrern im Frühling 1902 mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Die Verletzung heilte nicht richtig aus und so wurde ihr Vater als Amtsdiener an das Königliche Amtsgericht Freising versetzt. Doch auch die leichtere berufliche Tätigkeit brachte nichts: ihr Vater starb im August 1903 an den Folgen des Messerstichs. Zum Glück waren meine Großmutter und ihr Mutter finanziell gut abgesichert, denn der Verstorbene hatte in die Pensions-Anstalt der Stadt Freising einbezahlt. Damit erhielten meine Großmutter und ihre Mutter eine Witwen- und Waisenrente. Die ältere Schwester war bereits in München respektabel verheiratet.
Meine Großmutter und ihre Mutter zogen dann zum Vater der Mutter. Der war ein vermögender Schäftemacher in Pfarrkirchen. Er und seine Mitarbeiter fertigten Schäfte für die Stiefel der Soldaten, eine einträgliche Einnahmequelle.
Meine Oma besuchte die Höhere Mädchenschule, um sie auf ein Leben als Gattin und Mutter vorzubereiten. Damit sollte auch geschickt eine gute Partie eingefädelt werden. Meine Oma lernte in dieser Zeit auch ihr Lieblingsinstrument spielen: die Zither. Sie war sehr musikalisch und hatte ein schöne Gesangsstimme. Der Großvater, eben jener Schäftemacher S., band meine Oma in sein Geschäft ein, denn sie konnte sehr geschickt mit den Lederhändlern verhandeln.
Es kam die Zeit, um 1914, in der sich ihre Mutter um einen passenden Heiratskandidaten umsah. Viel Männer umschwärmten meine fesche Großmutter. Doch es sollte auch Geld zu Geld kommen und das Ansehen der Familie gemehrt werden: zum Bild sollte auch der Rahmen passen. Es war damals nicht so, dass man sich den Ehepartner aussuchen konnte, sondern die Ehen wurden sorgfältig arrangiert.
Nach geraumer Zeit war ein erwünschter Mann gefunden, oder soll ich sagen, aussortiert? Er war etwa 20 Jahre älter als meine Großmutter, Witwer, kinderlos und vermögend, kurzum, in den Augen meiner großmütterlichen Familie ideal. Man feierte Verlobung und mit der Verlobung hatte man so etwas wie die Erlaubnis, auch intim zu werden. Wurde die Braut, man nannte die Verlobungszeit auch Brautstand, in diese Zeit schwanger, so war dies nicht weiter von Bedeutung, denn zwischen Verlobung und Hochzeit lang in der Regel eine kurze Zeit.
Naja, es kam, wie es kommen mußte: meine Großmutter und ihr Verlobter wurden auch intim. Die Folge: meine Oma wurde schwanger. Aber noch während der Verlobungszeit kamen Gerüchte auf, dass ihr Zukünftiger am Tod seiner ersten Frau nicht unschuldig war. Die Ermittlungen wurden aufgenommen und es kamen, um es höflich zu sagen, böse Tatsachen ans Licht. Meine Großmutter weigerte sich daraufhin, ihren Verlobten zu heiraten, denn sie hatte einfach Angst vor diesem Mann und um ihr ungeborenes Kind. Meine Oma stieß dabei auf keinerlei Verständnis, sollte das Kind doch ehelich, ungeachtet der kriminellen Tatsachen, geboren werden. Doch meine Oma blieb bei ihrem Entschluß. Das brachte ihr nach der Geburt ihres Sohnes eine Verurteilung zu drei Tagen Gefängnis ein, denn meine Großmutter hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht. Meine Oma blieb erhobenen Hauptes diese drei Tage in der Gefängniszelle. Später gab sie ihren Sohn zu ihrer Schwester nach München, die selbst keine Kinder hatte und den Kleinen aufzog.
Meine Oma hatte durch ihre "Straftat" im Ansehen nicht verloren, sondern sich zumindest Respekt erworben.
Meine Großmutter arbeitete nun weiter im Geschäft ihres Großvaters, während ihre Mutter den Haushalt führte und den kleinen Buben, Michael, betreute. Der I. Weltkrieg ging nun dem Ende entgegen und es trat einer der fürchterlichsten Grippeepidemien auf, die Bayern je erlebt hatte, die sog. "Spanische Grippe". Dieser Seuche fiel die Mutter meiner Oma zum Opfer, sie starb im Oktober 1918 innerhalb weniger Tage. Nun war der Haushalt führungslos und meine Oma mußte neben ihrer Arbeit auch den Haushalt führen und um ihren kleinen Sohn kümmern. Omas Schwester, Katharina, kam natürlich zur Beerdigung der verstorben Mutter zu meiner Großmutter nach Pfarrkirchen, um wenigstens für ein paar Tage mitzuhelfen. Die, wie bereits erwähnt, kinderlose Frau, beschäftigte sich am liebsten mit ihrem zweijährigen Neffen Michael und zum Schluß kam man überein, dass Katharina das Kind nach München mitnahm. Meine Oma tat dies schweren Herzens, aber sie wußte, dass es ihrem Michael dort an nichts fehlen würde.
Im Frühling 1919 lernte dann meine Großmutter meinen Großvater kennen. Er arbeitete damals bei der Eisenbahn und war gerade als Bahnbediensteter nach Pfarrkirchen versetzt worden. Der große, dunkelhaarige Mann, mein Großvater hatte die für damalige Zeiten stattliche Größe von 1,80 m, und die kleine, aschblonde Frau, sie war etwa 1,60 m groß, verliebten sich und waren ein schönes Paar. Sie heirateten noch im Herbst 1919 und ein Jahr später kam meine erste Tante, die resolute Frieda, zur Welt. Meine Großmutter hätte nun gerne ihren Michael wieder zu sich genommen, mein Großvater freute sich auch schon, denn er wollte das Kind annehmen und ihm seinen Nachnamen erteilen. Doch der kleine Michael hatte sich schon so sehr an seine Tante gewöhnt, für ihn war sie ja seine Mutter, dass er herzzerreißend weinte, als ihn meine Großmutter mitnehmen wollte. So blieb Michael dann endgültig bei seiner Tante.
Mein Großvater war eigentlich Metzger von Beruf, durfte aber, da er eine kleine Invalidenrente bekam, seinen Beruf nicht ausüben. Daher arbeitete er bei der Bahn, war bei Hausschlachtungen aber ein gern gesehener Metzger. So sorgte mein Großvater dafür, dass er nicht nur durch seinen Beruf Geld verdiente, sondern auch noch über die Schlachtungen allerlei Naturalien ins Haus kamen.
Der Großvater meiner Oma mochte meinen Großvater überhaupt nicht. Denn erstens war er ein "Schwob´n deifi" und zweitens konnte meine Großmutter nicht zwei Haushalte gleichzeitig führen. So handelte meine Oma "nur" noch mit den Lederhändlern, aber auch das war ihrem Großvater nicht recht, da mein Opa Geld für die Arbeit meiner Oma verlangte.
Meine Oma bekam noch zwei Töchter: Anna und Katharina. Da es Mitte der 20iger Jahre genügend Arbeit gab, beschloßen meine Großeltern gegen Ende der 20iger Jahre, in Pfarrkirchen ein eigenes Haus zu bauen. Da meine Großmutter noch über das Erbteil ihrer Eltern verfügte und mein Opa ein gewisses Sümmchen angespart hatte, gingen meine Großeltern zur hiesigen Bank. Man wurde sich über die Kreditsumme, Tilgung und Zinsen einig und meine Großmutter, die gute Beziehungen hatte, kaufte den Bauplatz. Mit dem Rohbau wurde rasch begonnen und das Haus wuchs in die Höhe. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und meine Großeltern verloren Haus und Grund.
Das meine Großeltern schier verzweifelt waren, dürfte wohl klar sein. Sie hatten sich schon gefreut, bald aus den bahneigenen Wohnblocks ins eigene Haus ziehen zu dürfen. Da faßte mein Großvater den Entschluß, mit Frau und Kindern nach den USA auszuwandern. Dort hätte er in seinem erlernten Beruf arbeiten können und er traute sich zu, dort mit Können, Geschicklichkeit und Fleiß Fuß zu fassen. Er besorgte alle Papiere und stellte den Antrag. Doch der wurde abschlägig beschieden, da mein Großvater kriegsversehrt war. Wieder nichts!
Zudem kam aus der Heimat meines Großvaters die Nachricht, dass seine Mutter verstorben war und ihm ihr Erbteil, ein Stück Wald und Geld hinterlassen hatte. Meine Großeltern fuhren zur Beerdigung und dort wurde meinem Großvater eingeredet, dass es in seiner Heimat doch viel schöner sei und man ihm auch Arbeit besorgen könne, bessere Arbeit als bei der Bahn in Pfarrkirchen. Zu meiner Großmutter war man zwar höflich, verhielt sich ihr gegenüber aber auf eine bestimmte Art abweisend. Denn meine Oma war eben keine "Hiesige" und ein bischen engstirnig war man hier schon immer.
Meine Großeltern beschlossen also, in die Heimat meines Großvater zu ziehen. Meine Großmutter, eine weltoffene Frau, dachte, sie werde die neue Verwandschaft schon noch für sich gewinnen können.
Doch kaum waren sie angekommen, so mußten sie wieder in eine Mietwohnung in der Altstadt ziehen. Mein Großvater bekam keinesfalls eine bessere Arbeit: er schuftete als Bautagelöhner, meine Großmutter, die auch nähen konnte, ich kann mich noch gut an ihre Nähmaschine erinnern, nahm Näharbeiten an.
So sah etwa die Nähmaschine meiner Oma aus: http://bild6.qimage.de/singer-naehma...d-82279866.jpg
Die Ablehnung, die meiner Großmutter anfangs entgegengebracht wurde, schlug in offene Feindseligkeit um. Man lehnte sie total ab, nicht nur, weil sie nicht aus der Gegend stammte. Man warf ihr vor, ein uneheliches Kind zu haben, ungeachtet der Tatsache, dass das Kind gar nicht in der Familie meiner Großeltern lebte, sondern in München bei seiner Tante. Dann lachte man sie aus, dass sie "nur" drei Töchter hatte. Sie sei wohl unfähig, einen Jungen zur Welt zu bringen? Kurz: man nahm sie nicht in die Familie auf, diese "Fremde aus Niederbayern". Meine Großmutter setzte dann meinem Großvater ein Ultimatum: entweder ergreife er offen Partei für sie oder sie würde mit ihren Töchtern zurück nach Pfarrkirchen gehen. Mein Großvater wollte seine Frau nicht verlieren und stellte sich an ihre Seite. Mein Großvater konnte da mehr als resolut sein: stur und zornig. Ihm war es egal, ob die Anverwandten noch mit ihm sprachen.
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